Lyrik 1

Herbstgedicht

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde

 

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Will Dir den Frühling zeigen

Will Dir den Frühling zeigen
Der hundert Wunder hat.
Der Frühling ist waldeigen
Und kommt nicht in die Stadt.

Nur die weit aus den kalten
Gassen zu Zweien gehn
Und sich bei den Händen halten –
Dürfen ihn einmal sehn.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Er ist`s

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

Eduard Mörike (1804-1875)

Aus einem April
Wieder duftet der Wald.
Es heben die schwebenden Lerchen
mit sich den Himmel empor, der unseren Schultern schwer war;
zwar sah man noch durch die Äste den Tag, wie er leer war, –
aber nach langen, regnenden Nachmittagen
kommen die goldübersonnten
neueren Stunden,
vor denen flüchtend an fernen Häuserfronten
alle die wunden
Fenster furchtsam mit Flügeln schlagen.

Dann wird es still. Sogar er Regen geht leiser
über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz
in die glänzenden Knospen der Reiser.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Advent
Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird,
Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Gefunden
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus.
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Das Veilchen und der Schmetterling

Ein Veilchen stand
An Baches Rand,
Und sandte ungesehen
Bei sanftem Frühlingswehen
Süßen Duft
Durch die Luft.
Da kommt auf schwankendem Flügel
Ein Schmetterling über den Hügel,
Und senket zur kurzen Rast
Zum Veilchen sich nieder als Gast.

Schmetterling:
Ei! Veilchen! wie du töricht bist,
Zu blühn, wo niemand dein genießt!

Veilchen:
Nicht ungenossen blüh’ ich hier,
Ein Schäfer kommt gar oft zu mir,
Und atmet meinen Duft und spricht:
„Ein solches Blümchen fand ich nicht,
Wie Veilchen du! auf Wiesen, Auen,
Ist keines mehr wie du zu schauen!“

Schmetterling:
’s ist schöner doch, glaub meinem Wort,
Zu blühn auf freier Wiese dort,
In jener bunten Blumenwelt,
Als hier im dunklen Schattenzelt!

Veilchen:
Hier bin ich meines Schäfers Wonne,
Dort aber bleichet mich die Sonne,
Und ohne Farbe ohne Duft,
Find’ ich zu früh dort meine Gruft.
Drum blüh’ ich in der Einsamkeit,
Wenn auch nur Einer mein sich freut.

Nikolaus Lenau (1802-1850)

Advent

Hell erleuchtet sind die Fenster
Haus und Hof sind zugeschneit
Und ein Jeder fühlt im Herzen
Ruhe und Besinnlichkeit.
Verlassen sind die Straßen heute
Dunkel ragen Tannen auf
Friedlich und von hellem Glanze
Liegt pulverweißer Schnee darauf.
Aus den Häusern, aus den Stuben
Hört man friedlichen Gesang
Am Himmel strahlen, leuchten Sterne
Zu weihnachtlichem, süßen Klang.
Es ist Advent, die Welt in Stille
Es bleibt kein Platz für Traurigkeit
Und ein Jeder fühlt im Herzen
Freude und Behaglichkeit.

(Verfasser unbekannt)

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh’n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang,
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

(Rainer Maria Rilke, 1875-1926, österreichischer Schriftsteller, Dichter)